Es wird länger, aber ich lese hier bislang zum Gerät keine echte Entscheidungshilfe für Unentschlossene.
Ich spiele seit 40 Jahren Gitarre und habe in dieser Zeit unzähliges Equipment besessen, dazu gehört auch die Mutter aller Modelling-Amps, der Line 6 AxSys-212, den ich bei Erscheinen 1996/97 für damals horrendes Geld erwarb. Insofern habe ich mich digitalen Lösungen nie verwehrt und -nach echten Röhrenamps in der Zeit davor- waren Modeller für mich DER Standard, bis ich letztlich bei HeadRush (HR) anlangte. Für mich sind HR-Systeme in Sachen Bedienungsfreundlichkeit und Intuitivität noch immer Top of the Art. Umso unverständlicher, dass sie gerade in den einschlägigen Tutorial-Videos amerikanischer Influenzer erst an letzter Stelle oder gar nicht genannt werden und noch immer ein Schattendasein neben Neural DSP, Fractal, Helix, den jüngeren Tone X und Tone Master und natürlich Kemper, die aber nunmal Profiler sind, führen.
Mein letztes HR war besagtes Prime in Stereo mit 2 x HR FRFR 112 MK1 auf Stativen, weil mich die 12 Fußtaster und das große Display ansprachen. Enttäuscht war ich direkt, dass faktisch nur 8 der 12 Taster nutzbar sind, da die beiden linken für Up and Down und die beiden rechten für Tuner, Looper, Practice Tool reserviert sind. Wer also aufwändige Rigs mit Scenes programmieren möchte, vielleicht sogar im Split-Mode mit Instrument- und Vocal-Chain, wird hier Probleme haben zu entscheiden, was direkt per Footswitch geschaltet werden muss. Mit den Scenes Lead, Rhythm und Solo sind es dann nur noch 5 Switches, die übrig bleiben. Unverständlich, warum HR nicht alle 12 Taster frei programmierbar macht. Wer wirklich 12 oder mehr Fußtaster auf der Bühne braucht, wird mit einem Switch-Loop-System wie GigRig, Voodoo Lab, rjm Mastermind sicher glücklicher. Diese sieht man ja auch bei den großen Idolen (Petrucci etc.), nicht HR.
Da ich nicht (mehr) auf Bühnen, in Proberäumen stehe oder im Heimstudio sitze, stand das Prime bei mir in Sitzhöhe auf einem Laptop-Ständer mit ext. Expressionpedal, Bedienung per Hand.
Jeder Interessent sollte sich also vorher fragen, für welchen Zwck das System eingesetzt werden soll. Denn eines musste ich, schon mit dem MX5, feststellen: Ich verbrachte, wie nie zuvor, mehr Zeit zum Programmieren und Tweaken als mit Spielen und verzettelte mich. Wer Mitglied einer Top 100 Cover-Band ist, kann sich hier sicher Vieles in Anlehnung an die Originalquelle zusammenbasteln, aber sonst..? Der wichtigste Button auf dem Display ist der Return-Pfeil oben links im Eck. Er ist so winzig, dass man ihn gerne verfehlt. Auch wenn auf YT oft der Eindruck entsteht: Nein, das Display ist kein iPad und liegt in seiner Reaktion und Ansprache Lichtjahre eines Samsung-Displays entfernt. Clone- und Vocal-Funktionen haben mich nicht interessiert und waren nicht kaufentscheidend. Singer-Songwriter müssen es einfach ausprobieren.
Wer seinen festen Sound in einer Band bereits gefunden hat, holt sich mit dem Prime den Overkill an Amps, Cabs, IRs, Effekten etc. ins Haus, ohne jemals echten Nutzen davon zu haben. Ich habe Stunden damit verbracht, den Unterschied von gefühlt 50 virtuellen Overdrives, Delays und Reverbs zu erhören, nach dem Update im Sommer kam sogar noch mehr dazu. Letztlich blieb ich bei den bewährten Eleven-Sachen hängen. Frage mich ernsthaft, wer mit der Gitarre Orgel, Klavier, Synthie- und Pad-Sounds spielt. Schnell kommt man schon mit einem Standard-Rig von 5-8 Slots an seine audiophilen Grenzen, weil in jedem einzelnen Slot vielfältig die Frequenzen und der Sound bearbeitet werden können, jeweils mit Auswirkung auf den gesamten Signalpfad. Dazu kommen die In- und Output-Sektion mit weiteren EQ-Eingriffsmöglichkeiten. Also weit weg von Bass, Middle, Treble, Resonance und Presence.
Die Freude wird dann noch größer, wenn man 5 Parameterseiten bei Multidelays, Partyverbs und Ambient-Effekten mit individuellen Werten füllen soll, deren Bezeichnung sich eher studierten Toningenieuren erschließen dürften. Spätestens hier wird einem bewusst: Das Prime (respektive Core und Flex) ist kein Floorboard oder Amp, sondern ein verdammter Desktop-PC.
Vom AxSys bis heute hat sich soundmäßig natürlich viel getan. ABER: Auch das Prime soll klingen wie was? Na, das Original! JCM800, 5150, Deluxe, Plexi, AC30, SL100, Dumble und und und. Röhrenamps eben. Dasselbe gilt für die Effekte, am besten auch analog wie Binson, Klon, Univibe… Tun sie aber nicht. Die Werks-Presets sind ohnehin nicht aussagekräftig und in der spärlichen HR-Cloud findet man im Vergleich zu den o.g. Konkurrenten noch nichts, was man nicht auch selbst zügig zustande brächte.
Mir wurde immer bewusster, dass ich nicht Amps und Sounds aus den FRFRs hörte, sondern das mikrofonierte Signal modellierter Sounds, die wiederum mikrofoniert wurden. Es fühlte sich für mich nie nach Amp, sondern nach HiFi-Anlage an, obwohl ich in meinem Haus am Waldrand keine Rücksicht nehmen muss. Also eher wie die Blu-Ray eines Iron Maiden-Gigs über ein Dolby Atmos System. Gleicher Eindruck bei Abhöre mittels guter Studio-Kopfhörer.
Praktisch bei den aktuellen HRs sind definitiv Tuner, Bluetooth und Practice Tool. Wobei man bei letzterem über DRM*-freie Files verfügen muss. Wer glaubt, Apple Music, Spotify etc. in das HR laden zu können, irrt. (*Digital Rights Management)
Rat: Überlegt genau, was mit dem HR gemacht werden soll! Wer Slash, Angus, Jimmy H. und P., Eddie, Petrucci, Gilmour, Bonamassa, Johnson, Vai, Satriani, Hammett/Hetfield anhimmelt, ist hier falsch und wird schnell wieder auf Kleinanzeigen verkaufen. Obacht! Der Preisverfall bei HR ist enorm! Schon nach wenigen Monaten muss man 60-50% Verlust in Kauf nehmen. Und noch eines: Vor dem Prime besaß ich das MX5. Schon nach 3 Jahren stellte HR den Support ein. Keine Updates mehr, keine Erwähnung auf der Homepage. Elektroschrott! Klar, funktioniert noch, aber nichts mehr wert. So wird es spätestens 2026/27 auch mit dem Prime sein. Aus Quad-Core wird schnell Octa-Core, man hat eigentlich immer alte Ware schon dann, wenn man sie kauft. Wie mit Smartphones.
Fazit: Ich danke HR für die Erkenntnis, dass das organische Gefühl und die Magie mit nichts anderem in unsere Körper gelangen können als mit einem echten Amp, einer echten Box, ein paar guten Effekten und anständigen Instrumenten. Ja, das geht heute auch in leise und mit Röhre, ob mit Master Volume oder OX/Freyette.